Montag, 30. April 2012

Der Fall Timoschenko und die Moral politischen Gedankenguts


Da wird eine ehemalige Regierungschefin wegen Machtmissbrauchs verurteilt. Sie behauptet eine Erkrankung (Bandscheibenvorfall), die nicht behandelt würde und unzumutbare Haftbedingungen. Von der Bundesregierung wurde eine ärztliche Behandlung in Deutschland angeboten und wird ein Boykott der Fußball-Europameisterschaft 2012 in der Ukraine überlegt.
Es wäre müßig hier zu klären, ob die Vorwürfe gegen Julia Timoschenko zutreffend sind oder es sich um ein typisches Urteil eines Staates ohne Rechtsstaatssystem und funktionierende Rechtsordnung handelt, bei dem Andersdenkende durch entsprechende Inhaftierungen letztlich „weggesperrt“ werden. Selbst wenn eine Verurteilung lediglich auf den eigenen Machtmissbrauch der derzeitigen Staatsführung zurückzuführen wäre, ist doch der massive Einsatz der Bundesregierung wie auch der SPD für die Inhaftierte  - gar unter Boykottandrohung für die Fußballeuropameisterschaften -  verwunderlich.  Hier verliert leider auch die deutsche Politik ihre Glaubwürdigkeit.  

Bandscheibenerkrankungen sind keine Seltenheit. Dies nicht nur in Deutschland, auch in der Ukraine. Nicht nur Julia Timoschenko wäre davon betroffen. Aber nur ihr wird von der Bundesregierung eine Behandlung in Deutschland angeboten, nicht anderen erkrankten Ukrainern. Weshalb die Bevorzugung einer bestimmten Person ? Weshalb der Bevorzugung einer bestimmten Klasse, nämlich der politischen ?  Handelt es sich bei den übrigen Erkrankten um Personen zweiter oder dritter Wahl, die es nicht Wert sind auch behandelt zu werden ?

Ob es wirklich Misshandlungen gibt (Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung vom 29.4.2012 nach Angaben der Tochter von Julia Timoschenko) kann hier auch nicht beurteilt werden. Dies als wahr unterstellt würde sich allerdings weder hieraus noch im Zusammenhang mit der benannten Erkrankung diese Vorgehensweise rechtfertigen.  Es gibt genügend totalitäre Staaten, die nicht gerade sanftmütig mit ihrer internen Opposition umgehen. Beispielhaft sei auf die Volksrepublik China verwiesen. Dass es bei menschenrechtswidrigen Verstößen gegen einzelne Oppositionelle in diesen Staaten zu einem derart massivem Aufschrei (auch der Bundesregierung und der SPD) käme, gar mit Androhung des Boykotts internationaler Veranstaltungen, ist bisher nicht überliefert. Es gibt Protestnoten  -  damit hat es sein Bewenden.

Wieso also hier ein derart massives Vorgehen ? Ist Julia Timoschenke etwas besonderes ? Das wird man in gewisser Art bejahen müssen: Sie war Regierungschefin und war aktive Politikerin. Sie gehört(e) also zu der Klasse, die sich jetzt derart massiv für sie einsetzt. Der Einsatz gilt also „seinesgleichen“. Damit besteht ein Unterschied zur Unterdrückung und Repression gegen andere Oppositionelle, weithin unbekannte Personen, die sich gegen den Staat auflehnen und ein Recht auf Freiheit geltend machen.

Um nicht falsch verstanden zu werden: Sollte Julia Timoschenko Repressionen oder gar Gewalt ausgesetzt sein, ist dies zu verurteilen; sollte eine medizinische Behandlung geboten sein, ist diese vorzunehmen. Sonderrechte im Verhältnis zu anderen Oppositionellen totalitärer Staaten können und dürfen ihr aber durch politische Instanzen anderer Staaten nicht zuteil kommen. Dies ist eine unverständliche doppelbödige Moral.

[Ralf Niehus]