Mittwoch, 21. September 2016

Berlin: Bewusste Wahlbenachteiligung für Blinde ?


Da gibt es, man glaubt es kaum, ein Gesetz namens „Gesetz zur Gleichstellung von Menschen mit Behinderung (Behindertengleichtellungsgesetz – BBG)“. Dabei heißt es dann in § 1 Abs. 1 Satz 1 BBB: „Ziel dieses Gesetzes ist es, die Benachteiligung von Menschen mit Behinderungen zu beseitigen und zu verhindern sowie ihre gleichberechtigte Teilhabe am Leben in der Gesellschaft zu gewährleisten und ihnen eine selbstbestimmte Lebensführung zu ermöglichen.“ Und § 1 Abs. 2 BBG schließt daran an: „Die Träger öffentlicher Gewalt im Sinne des Absatzes 2 Satz 1 sollen darauf hinwirken, dass Einrichtungen, Vereinigungen und juristische Personen des Privatrechts, an denen die Träger öffentlicher Gewalt unmittelbar oder mittelbar ganz oder überwiegend beteiligt sind, die Ziele dieses Gesetzes in angemessener Weise berücksichtigen.“ Und, man staunt, in § 10 Abs. 1 BBG heißt es sogar: „Träger öffentlicher Gewalt im Sinne des § 1 Absatz 2 Satz 1 haben bei der Gestaltung von Bescheiden, Allgemeinverfügungen, öffentlich-rechtlichen Verträgen und Vordrucken eine Behinderung von Menschen zu berücksichtigen. Blinde und sehbehinderte Menschen können zur Wahrnehmung eigener Rechte im Verwaltungsverfahren nach Maßgabe der Rechtsverordnung nach Absatz 2 insbesondere verlangen, dass ihnen Bescheide, öffentlich-rechtliche Verträge und Vordrucke ohne zusätzliche Kosten auch in einer für sie wahrnehmbaren Form zugänglich gemacht werden.“


Was daran so besonderes ist ? Das Gesetz stammt aus dem Jahr 2002. Und wie sieht die Wirklichkeit aus ? Anlässlich der Wahlen in Berlin zum Abgeordnetenhaus und den Bezirksversammlungen wurde Blinden freigestellt sich bei der Stimmabgabe von einer Person ihres Vertrauens oder dem Leiter  des Wahlbüros helfen zu lassen. Und wie heißt es in § 49 Abs. 6 der Landeswohlordnung von Berlin: „Muster der Stimmzettel werden unverzüglich nach ih­rer Fertigstellung denjenigen Blindenvereinen, die ihre Be­reit­schaft zur Herstellung von Stimmzettelschablonen er­klärt haben, zur Verfügung gestellt. Das Land erstattet diesen die durch die Herstellung und die Verteilung der Stimm­zet­tel­scha­blo­nen veranlassten notwendigen Ausgaben.“ Findet sich also niemand, der seine Bereitschaft zur Herstellung der Schablonen erklärt, werden sie nicht erstellt. Das Land Berlin als solches übernimmt dies gemäß der Landeswahlordnung nicht.


Die Landeswahlordnung verstößt gegen Bundesrecht. Nach § 10 Abs. 1 BBG haben (also verpflichtend) die Träger öffentlicher Gewalt bei Vordrucken, zu denen auch Wahlzettel zählen, so zur Verfügung zu stellen, dass sie für Blinde lesbar sind (z.B. qua Schablone). Das Unterlassen stellt sich nicht nur als ein Eingriff in das Persönlichkeitsrecht des Betroffenen dar, da er zum Zwecke der Wahl sich Dritten gegenüber gezwungen ist zu offenbaren, was er wählt, sondern als Eingriff in die Unabhängigkeit und Freiheit der Wahl. Es stellt sich als wissentliche Diskriminierung der Blinden durch das Land dar, und als Eingriff in das Verfassungsrecht nach Art. 26 Abs. 1 Berliner Verfassung (wortgleich mit Art. 38 Abs. 1 GG für Wahlen zum Bundestag), wonach die Wahlen aus gutem Grund „geheim“ stattzufinden haben.


Zwar gibt es Schablonen, doch um deren Beschaffung müssen sich Blinde selbst kümmern. In den Wahlbenachrichtigungen hieß es: „Blinde und Sehbehinderte können beim Allgemeinen Blinden- und Sehbehindertenverein Berlin, gegr. 1874 e. V. (ABSV), unter Tel.: 895 88-0 eine Schablone zum selbständigen Wählen anfordern. Internet: www.absv.de“.



Da werden vom Gesetzgeber Gesetze erlassen und mit Stolz verkündet, was für bestimmte Bevölkerungsgruppen gemacht würde. Alleine das Gesetz macht es nicht. Es wäre schön, wenn die Umsetzung auch ohne Gesetz gegeben wäre, und zwar eine Umsetzung, die der Zielsetzung gerecht wird. Dies ist dann nicht der Fall, wenn hier der Wähler erst durch zusätzliche eigene Maßnahmen in die Lage versetzt wird, an der Wahl teilzunehmen, da ihm nicht von staatlicher Stelle, so im Wahlraum, eine Schablone zur Verfügung gestellt wird. Barrierefreiheit, die von Politikern in Werbequalität ausposaunt wird, ist etwas anders.

___
Gedanken zur Wahl vom 18.09.2016 - einmal aus anderer Perspektive

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen