Donnerstag, 27. Juni 2019

Der Rechtsstaat und sein Verhältnis zu Recht und Gerechtigkeit – eine tautologische Reflektion oder ein Versuch ?


Immer wieder entflammt eine Diskussion über die Frage, ob etwas „gerecht“ sei. Z.B. bei der Umsatzsteuer: Auf Hundefutter gilt der ermäßigte Satz von 7%, auf Windeln der allgemeine Satz von 19%. Oder: Die Wohnverteuerung durch Sanierungen, auch wenn diese in Ansehung von politisch gewünschten Maßnahmen (wie Wärmedämmungen pp.) erfolgen. Damit aber werden die Kernbegriffe Recht, Rechtstaat und Gerechtigkeit vermischt. Leben wir in einem von Recht geprägten (gar gerechten) Rechtsstaat ?

a) Unter „Recht“ wird das geschriebene Recht (in Form von Gesetzen oder darauf beruhenden Verordnungen) wie auch das von der Rechtsprechung geprägte Recht und das Gewohnheitsrecht verstanden.

Am einfachsten ist qua Definition das geschriebene Recht als Recht zu verstehen. Das, was in einem Gesetz zum Ausdruck gebracht wird, ist „Recht“. Es ist die Verhaltensregel, an die man sich – soweit es nicht vom Gesetzgeber zur Disposition gestellt wird - zu halten hat.

Allerdings ist es nicht einfach, dieses Recht anzuwenden. Dies wird deutlich, wenn man die umfassende Judikatur liest. Immer wieder sehen sich die Richter veranlasst, das Recht auszulegen, zu interpretieren, oder bestimmte Normen, die an sich einen anderen Sachverhalt regeln, entsprechend auf einen zu beurteilenden Sachverhalt anzuwenden. Die Rechtsanwendung ist also nicht die simple Übertragung des Wortlautes, zumal dieser häufig auch nur Generalformeln enthält, wie z.B. in § 242 BGB die „Treu- und-Glauben“-Regelung. Und dabei ist diese Rechtsprechung nicht einheitlich. Unabhängig davon, dass verschiedene Gerichte bestimmte gesetzliche Regelungen anders interpretieren, kommt es auch immer wieder vor, dass selbst der BGH seine Auslegungen ändert (was meist mit dem Hinweis auf eine nun geänderte Rechtsprechung erfolgt).

Wenn schon die Anwendung des geschriebenen Rechts auf entsprechende Schwierigkeiten stößt, wird deutlich, dass dies bei der Anwendung von Gewohnheitsrecht (zu dem z.B. auch kaufmännisches Geschäftsverhalten gehört) erst recht zu Schwierigkeiten führt: Handelt es sich um ein Gewohnheitsrecht oder gehen anderweitige (gesetzlich, also schriftlich geragelte) Normen vor ? Dabei sei beispielhaft auf die ehedem offene Frage verwiesen, ob es selbstverständlich sei, dass ein umsatzsteuerpflichtiger Kaufmann dem vorsteuerabzugsberechtigten Kunden nur Nettopreise mitteilt und selbstverständlich die Umsatzsteuer aufschlagen kann; die Rechtsprechung hat klar entschieden, dass bei fehlenden Hinweis auf die zusätzliche Umsatzsteuer der mitgeteilte Nettobetrag als Bruttobetrag gilt.

b) Der Begriff des Rechtsstaates wird häufig verwandt. Insbesondere dann, wenn die Ansicht vertreten wird, eine bestimmte Maßnahme oder Entscheidung sei nicht mehr mit dem Rechtsstaatsprinzip vereinbar.

Auf Wikipedia wird der Begriff wie folgt definiert: Ein Rechtsstaat ist ein Staat, der einerseits verbindliches Recht schafft und andererseits seine eigenen Organe zur Ausübung der staatlichen Gewalt an das Recht bindet [1].

Dies besagt nichts anderes, als dass der Staat (durch die Volksvertretungen, also den Land- oder Bundestag, evtl. Bundesrat, aber ebenso die Kommunen durch ihre Satzungsgewalt) verbindlich schriftliche Normen schafft, die von den staatlichen Organen zu beachten sind (wobei das höherrangige Recht dem niederen Recht vorgeht, also eine Satzung einer Kommune bei Verstoß gegen Landes- oder Bundesrecht unwirksam ist; sogen. Kollisionsregel).

c) Der Begriff der „Gerechtigkeit“ hat weder etwas mit „Recht“ noch mit „Rechtsstaat“ zu tun, auch wenn sie im englischen und französischen mit justice und im lateinischen mit iustitia bezeichnet werden. Es ist ein philosophisch geprägter Begriff, über den schon die antiken Griechen wie Sokrates und Platon sich ausgelassen haben. Gleiches sollte gleich und Ungleiches ungleich behandelt werden, wobei allerdings dann due Frage zu lösen war, was Gleich und was Ungleich ist. Im Mittelalter, unter kirchlicher Dominanz, setzte sich die Auffassung durch, dass es Gerechtigkeit nicht auf Erden sondern nur im Himmel geben könne, da Gerechtigkeit eine göttliche, keine menschliche Größe sei. Dies änderte sich in der Zeit der Aufklärung, in der Kant die Vernunftethik formulierte. Er verwandte dafür den kategorischen Imperativ: Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde [2].

Moral und Ethik werden in der weiteren philosophischen Diskussion in den Vordergrund gehoben (bzw. verworfen). Hegel z.B. wirft Kant vor, der kategorische Imperativ erzeuge nur Tautologien, die jede materiale Norm zu rechtfertigen erlaube. Marx wandelt den kategorischen Imperativ zu einem revolutionären Prinzip gegen Knechtschaft und Erniedrigung um und Schopenhauer wirft Kant einen theologischen Ansatz („du sollst“) vor. Habermas spricht von einer „kooperativen Wahrheitssuche“ unter „freien und gleichen Teilnehmern“.

Deutlich wird, dass mit Gerechtigkeit kein absoluter Begriff geprägt ist, sondern eine Etikette, unter der sich alles sammeln lässt, was als „gerecht“ vom jeweiligen Betrachter aus angesehen werden kann. Letztlich ist Hegel, auch wenn er sich bei auf Kant bezog, grundsätzlich zuzustimmen, dass Gerechtigkeit nicht im Sinne einer Allgemeingültigkeit verstanden werden kann, sondern jedenfalls tautologische Züge hat: Eine Aussage, die immer wahr ist, unabhängig vom Wahrheitsgehalt der einzelnen, ihr zugrunde liegenden Bestandteile.

d) Wenn der Begriff der Gerechtigkeit schwimmend ist, können weder Gesetzgebung noch Gerichte Gerechtigkeit herstellen.

Gerichte können ohnehin keine Gerechtigkeit herstellen, insbesondere bei streitigen Sachverhalten. Der Sachverhalt, der der Entscheidung zugrunde zu legen ist, ist vom Gericht festzustellen. Ist er streitig, kommt es häufig auf das Ergebnis einer Beweisaufnahme an. Her ist der Richter an bestimmte Vorgaben (§§ 286, 287 ZPO) gebunden. Er entscheidet letztlich nicht darüber, ob etwas tatsächlich wahr ist oder nicht, er entscheidet nach dem Beweismaß. Somit ist der Spruch „Recht bekommen und Recht haben sind zwei Paar Schuhe“ sicherlich richtig, und auch die weitere Floskel „Vor Gericht ist es wie auf hoher See: Man ist mit sich und Gott alleine“ hat sicherlich einen Wahrheitskern.

Problematischer wird es aber, wenn Gerichte das Recht als solches anwenden und den Rechtssatz (das Gesetz) deuten. Rechtshistorisches ist der Müller-Fall: Friedrich II (der Große) setzte sich für einen Müller ein, erlaubte diesem eine Schadensersatzklage gegen den Landrat von Gersdorff, der durch die Anlage eines Karpfenteiches oberhalb der Mühle dieser das notwendige Wasser zum Betrieb der Mühle nahm. Die Klage wurde abgewiesen. Letztlich verurteilte Friedrich die Richter zu Haftstrafen und gab selbst der Klage des Müllers statt. In der Folge ließ er das Allgemeine Preußische Landrecht (ALR) verfassen, mit dem er sicherstellen wollte, dass Richter sich an den Buchstaben des Gesetzes ohne eigene Auslegung halten.

Diese Ansätze wurden im BGB nicht stringent übernommen und finden sich auch nicht mehr in den neueren Gesetzen. Die Auslegung, auch mittels der Gesetzesmaterialien (so insbesondere Gesetzesbegründungen) sind Hilfsmittel. Danach mag im Grundsatz Verständnis dafür bestehen, dass es bei verschiedenen Gerichten zu unterschiedlichen Auslegungen (wie auch in der juristischen Literatur) kommt. Beurteilen zwei gleichrangige Gerichte eine Rechtsfrage unterschiedlich, ist zur Vereinheitlichung der Rechtsprechung die Revision zum BGH zuzulassen (§ 543 Abs. 2 Nr. 2 2. Alt. ZPO). Wenn sich dann der BGH zu einer bestimmten Rechtsauffassung durchringt, ist es natürlich für den Rechtssuchenden unverständlich, wenn (manchmal bereits kurze Zeit später) der gleiche Senat des BGH diese Rechtsprechung ändert.

Recht, welches der judikativen Auslegung zugänglich ist, mag zwar ein geschriebenes Gesetz sein, bietet aber nicht die vom Bürger erhoffte Verlässlichkeit, wenn selbst vom höchsten deutschen Gericht Änderungen vorgenommen werden. Aber auch ein Richter erlaubt sich, um mit Adenauer zu sprechen, klüger zu werden. Dass allerdings diese Art der Rechtsfortbildung bei den davon negativ Betroffenen auf Unverständnis stößt, liegt auf der Hand.

Das aber ist keine Frage der Gerechtigkeit, deren philosophischer Ansatz natürlich auch hier die Rechtsprechungsänderung begründen kann, sondern eine Frage des Rechtsstaates. Lässt es sich mit dem Rechtsstaatsprinzip noch vertreten, wenn – ohne dass eine Änderung in der rechtlichen Grundlage eingetreten ist – die Rechtsprechung geändert wird und damit der Bürger, der auf den Bestand einer Rechtsansicht vertraute, letztlich einen Prozess verliert (und dafür auch die Kosten zu zahlen hat) ? Für den Juristen mag dies ein täglicher Kampfsport sein, für den Mandanten hängt aber häufig viel davon ab.

Handelt es sich also um einen Rechtsstaat, wenn Recht durch unterschiedliche Auslegung (und Änderung der Rechtsprechung) letztlich zu einem Richterrecht wird ? Wenn man den Begriff Rechtsstaat als wörtliches Element als Staat, in dem Recht herrscht, nimmt, und nicht wie Gerechtigkeit nur als philosophische Betrachtungsweise, wird man die Art der geübten Anwendung von Recht nicht dem Rechtsstaatsbegriff zuordnen können, da keine Rechtssicherheit besteht.



[1] https://de.wikipedia.org/wiki/Rechtsstaat
[2] Immanuel Kant, Gesammelte Schriften. Hrsg.: Bd. 1-22 Preussische Akademie der Wissenschaften, Bd. 23 Deutsche Akademie der Wissenschaften zu Berlin, ab Bd. 24 Akademie der Wissenschaften zu Göttingen, Berlin 1900ff


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