Immer wieder entflammt eine Diskussion über die Frage, ob etwas
„gerecht“ sei. Z.B. bei der Umsatzsteuer: Auf Hundefutter gilt der ermäßigte
Satz von 7%, auf Windeln der allgemeine Satz von 19%. Oder: Die Wohnverteuerung
durch Sanierungen, auch wenn diese in Ansehung von politisch gewünschten
Maßnahmen (wie Wärmedämmungen pp.) erfolgen. Damit aber werden die Kernbegriffe
Recht, Rechtstaat und Gerechtigkeit vermischt. Leben wir in einem von Recht
geprägten (gar gerechten) Rechtsstaat ?
a) Unter „Recht“ wird das
geschriebene Recht (in Form von Gesetzen oder darauf beruhenden Verordnungen)
wie auch das von der Rechtsprechung geprägte Recht und das Gewohnheitsrecht
verstanden.
Am einfachsten ist qua Definition
das geschriebene Recht als Recht zu verstehen. Das, was in einem Gesetz zum
Ausdruck gebracht wird, ist „Recht“. Es ist die Verhaltensregel, an die man
sich – soweit es nicht vom Gesetzgeber zur Disposition gestellt wird - zu
halten hat.
Allerdings ist es nicht einfach,
dieses Recht anzuwenden. Dies wird deutlich, wenn man die umfassende Judikatur
liest. Immer wieder sehen sich die Richter veranlasst, das Recht auszulegen, zu
interpretieren, oder bestimmte Normen, die an sich einen anderen Sachverhalt
regeln, entsprechend auf einen zu beurteilenden Sachverhalt anzuwenden. Die
Rechtsanwendung ist also nicht die simple Übertragung des Wortlautes, zumal
dieser häufig auch nur Generalformeln enthält, wie z.B. in § 242 BGB die „Treu-
und-Glauben“-Regelung. Und dabei ist diese Rechtsprechung nicht einheitlich. Unabhängig
davon, dass verschiedene Gerichte bestimmte gesetzliche Regelungen anders
interpretieren, kommt es auch immer wieder vor, dass selbst der BGH seine
Auslegungen ändert (was meist mit dem Hinweis auf eine nun geänderte
Rechtsprechung erfolgt).
Wenn schon die Anwendung des
geschriebenen Rechts auf entsprechende Schwierigkeiten stößt, wird deutlich,
dass dies bei der Anwendung von Gewohnheitsrecht (zu dem z.B. auch
kaufmännisches Geschäftsverhalten gehört) erst recht zu Schwierigkeiten führt:
Handelt es sich um ein Gewohnheitsrecht oder gehen anderweitige (gesetzlich,
also schriftlich geragelte) Normen vor ? Dabei sei beispielhaft auf die ehedem
offene Frage verwiesen, ob es selbstverständlich sei, dass ein
umsatzsteuerpflichtiger Kaufmann dem vorsteuerabzugsberechtigten Kunden nur
Nettopreise mitteilt und selbstverständlich die Umsatzsteuer aufschlagen kann;
die Rechtsprechung hat klar entschieden, dass bei fehlenden Hinweis auf die
zusätzliche Umsatzsteuer der mitgeteilte Nettobetrag als Bruttobetrag gilt.
b) Der Begriff des Rechtsstaates
wird häufig verwandt. Insbesondere dann, wenn die Ansicht vertreten wird, eine
bestimmte Maßnahme oder Entscheidung sei nicht mehr mit dem Rechtsstaatsprinzip
vereinbar.
Auf Wikipedia wird der Begriff
wie folgt definiert: Ein Rechtsstaat ist ein Staat, der einerseits
verbindliches Recht schafft und andererseits seine eigenen Organe zur Ausübung
der staatlichen Gewalt an das Recht bindet
.
Dies besagt nichts anderes, als
dass der Staat (durch die Volksvertretungen, also den Land- oder Bundestag,
evtl. Bundesrat, aber ebenso die Kommunen durch ihre Satzungsgewalt)
verbindlich schriftliche Normen schafft, die von den staatlichen Organen zu
beachten sind (wobei das höherrangige Recht dem niederen Recht vorgeht, also eine
Satzung einer Kommune bei Verstoß gegen Landes- oder Bundesrecht unwirksam ist;
sogen. Kollisionsregel).
c) Der Begriff der
„Gerechtigkeit“ hat weder etwas mit „Recht“ noch mit „Rechtsstaat“ zu tun, auch
wenn sie im englischen und französischen mit
justice und im lateinischen mit
iustitia
bezeichnet werden. Es ist ein philosophisch geprägter Begriff, über den schon
die antiken Griechen wie Sokrates und Platon sich ausgelassen haben. Gleiches
sollte gleich und Ungleiches ungleich behandelt werden, wobei allerdings dann
due Frage zu lösen war, was Gleich und was Ungleich ist. Im Mittelalter, unter
kirchlicher Dominanz, setzte sich die Auffassung durch, dass es Gerechtigkeit
nicht auf Erden sondern nur im Himmel geben könne, da Gerechtigkeit eine
göttliche, keine menschliche Größe sei. Dies änderte sich in der Zeit der
Aufklärung, in der Kant die Vernunftethik formulierte. Er verwandte dafür den
kategorischen Imperativ: Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du
zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde
.
Moral und Ethik werden in der
weiteren philosophischen Diskussion in den Vordergrund gehoben (bzw.
verworfen). Hegel z.B. wirft Kant vor, der kategorische Imperativ erzeuge nur
Tautologien, die jede materiale Norm zu rechtfertigen erlaube. Marx wandelt den
kategorischen Imperativ zu einem revolutionären Prinzip gegen Knechtschaft und
Erniedrigung um und Schopenhauer wirft Kant einen theologischen Ansatz („du
sollst“) vor. Habermas spricht von einer „kooperativen Wahrheitssuche“ unter „freien
und gleichen Teilnehmern“.
Deutlich wird, dass mit
Gerechtigkeit kein absoluter Begriff geprägt ist, sondern eine Etikette, unter
der sich alles sammeln lässt, was als „gerecht“ vom jeweiligen Betrachter aus
angesehen werden kann. Letztlich ist Hegel, auch wenn er sich bei auf Kant
bezog, grundsätzlich zuzustimmen, dass Gerechtigkeit nicht im Sinne einer
Allgemeingültigkeit verstanden werden kann, sondern jedenfalls tautologische
Züge hat: Eine Aussage, die immer wahr ist, unabhängig vom Wahrheitsgehalt der
einzelnen, ihr zugrunde liegenden Bestandteile.
d) Wenn der Begriff der
Gerechtigkeit schwimmend ist, können weder Gesetzgebung noch Gerichte
Gerechtigkeit herstellen.
Gerichte können ohnehin keine
Gerechtigkeit herstellen, insbesondere bei streitigen Sachverhalten. Der
Sachverhalt, der der Entscheidung zugrunde zu legen ist, ist vom Gericht
festzustellen. Ist er streitig, kommt es häufig auf das Ergebnis einer
Beweisaufnahme an. Her ist der Richter an bestimmte Vorgaben (§§ 286, 287 ZPO)
gebunden. Er entscheidet letztlich nicht darüber, ob etwas tatsächlich wahr ist
oder nicht, er entscheidet nach dem Beweismaß. Somit ist der Spruch „Recht
bekommen und Recht haben sind zwei Paar Schuhe“ sicherlich richtig, und auch
die weitere Floskel „Vor Gericht ist es wie auf hoher See: Man ist mit sich und
Gott alleine“ hat sicherlich einen Wahrheitskern.
Problematischer wird es aber,
wenn Gerichte das Recht als solches anwenden und den Rechtssatz (das Gesetz)
deuten. Rechtshistorisches ist der Müller-Fall: Friedrich II (der Große) setzte
sich für einen Müller ein, erlaubte diesem eine Schadensersatzklage gegen den
Landrat von Gersdorff, der durch die Anlage eines Karpfenteiches oberhalb der
Mühle dieser das notwendige Wasser zum Betrieb der Mühle nahm. Die Klage wurde
abgewiesen. Letztlich verurteilte Friedrich die Richter zu Haftstrafen und gab
selbst der Klage des Müllers statt. In der Folge ließ er das Allgemeine
Preußische Landrecht (ALR) verfassen, mit dem er sicherstellen wollte, dass
Richter sich an den Buchstaben des Gesetzes ohne eigene Auslegung halten.
Diese Ansätze wurden im BGB nicht
stringent übernommen und finden sich auch nicht mehr in den neueren Gesetzen. Die
Auslegung, auch mittels der Gesetzesmaterialien (so insbesondere
Gesetzesbegründungen) sind Hilfsmittel. Danach mag im Grundsatz Verständnis
dafür bestehen, dass es bei verschiedenen Gerichten zu unterschiedlichen
Auslegungen (wie auch in der juristischen Literatur) kommt. Beurteilen zwei
gleichrangige Gerichte eine Rechtsfrage unterschiedlich, ist zur
Vereinheitlichung der Rechtsprechung die Revision zum BGH zuzulassen (§ 543
Abs. 2 Nr. 2 2. Alt. ZPO). Wenn sich dann der BGH zu einer bestimmten
Rechtsauffassung durchringt, ist es natürlich für den Rechtssuchenden
unverständlich, wenn (manchmal bereits kurze Zeit später) der gleiche Senat des
BGH diese Rechtsprechung ändert.
Recht, welches der judikativen
Auslegung zugänglich ist, mag zwar ein geschriebenes Gesetz sein, bietet aber
nicht die vom Bürger erhoffte Verlässlichkeit, wenn selbst vom höchsten
deutschen Gericht Änderungen vorgenommen werden. Aber auch ein Richter erlaubt
sich, um mit Adenauer zu sprechen, klüger zu werden. Dass allerdings diese Art
der Rechtsfortbildung bei den davon negativ Betroffenen auf Unverständnis
stößt, liegt auf der Hand.
Das aber ist keine Frage der
Gerechtigkeit, deren philosophischer Ansatz natürlich auch hier die
Rechtsprechungsänderung begründen kann, sondern eine Frage des Rechtsstaates. Lässt
es sich mit dem Rechtsstaatsprinzip noch vertreten, wenn – ohne dass eine
Änderung in der rechtlichen Grundlage eingetreten ist – die Rechtsprechung
geändert wird und damit der Bürger, der auf den Bestand einer Rechtsansicht
vertraute, letztlich einen Prozess verliert (und dafür auch die Kosten zu
zahlen hat) ? Für den Juristen mag dies ein täglicher Kampfsport sein, für den
Mandanten hängt aber häufig viel davon ab.
Handelt es sich also um einen
Rechtsstaat, wenn Recht durch unterschiedliche Auslegung (und Änderung der
Rechtsprechung) letztlich zu einem Richterrecht wird ? Wenn man den Begriff
Rechtsstaat als wörtliches Element als Staat, in dem Recht herrscht, nimmt, und
nicht wie Gerechtigkeit nur als philosophische Betrachtungsweise, wird man die
Art der geübten Anwendung von Recht nicht dem Rechtsstaatsbegriff zuordnen
können, da keine Rechtssicherheit besteht.